Gestern wurde gewählt

Ich dachte, ich würde nie in meinem Leben mit Nazis zu tun haben! Ich bin Jahrgang ‘42. Also habe ich davon nicht sehr viel mitbekommen damals. Sicher hörte ich fortdauernd die Geschichten meiner Eltern, aber heute ist es – von dem, was ich noch aus meinen Kindheitserinnerungen weiß – viel schlimmer.

Das sind die Worte eines Mannes, der gestern in der Messe hinter mir saß. Der Gottesdienst hatte noch nicht begonnen, und so erzählte er seiner Nachbarin, wie wichtig die Wahlen für ihn seien und wie sehr er hoffe, dass die jetzige Generation das ebenso begreife – dass die Zukunft aller von jeder abgegebenen bzw. nicht abgegebenen Stimme abhänge.

Dann, fast übergangslos, übernahm der Pfarrer das Wort. Vom Predigtpult hörten wir viel über die Liebe:

  • die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind,
  • die Liebe eines Kindes zu seinem Hund,
  • unsere Liebe zum Vaterland,
  • die Feindesliebe,
  • die grenzenlose Liebe Gottes.

Auch hörten wir über die Liebe, die uns Schmetterlinge im Bauch verursacht. Wir wollen wegen unseres Aussehens geliebt werden. Wir wollen begehrt werden. „Ich verliebe mich in dessen ausstrahlender Attraktivität und verfalle wie in einem Rausch.“

Nun sitze ich hier in meinem stillen Kämmerlein und versuche, die Ereignisse des gestrigen Tages für mich in Worte zu fassen. Doch ich komme nicht weit. Es war ein bewegender Moment – die Worte eines älteren Mannes, der die Vergangenheit miterlebt hat, und die Reflexionen über die Bedeutung der Wahl. Die Kluft zwischen der politischen Realität und der Predigt über die Liebe könnte kaum tiefer sein.

Diese Spannung wirft mehr Fragen auf, als ich beantworten kann:

  • Kann Liebe auch politisch sein?
  • Was haben die mahnenden Worte des alten Mannes mit der sanften Predigt mit ihrer zentralen Botschaft der Liebe zu tun?
  • Ist die Erinnerung des alten Mannes eine Form von Liebe – zur Wahrheit, zur Demokratie, zur kommenden Generation?
  • Ist Feindesliebe in Zeiten des politischen Extremismus eine Einladung zum Dialog oder eine naive Idee?
  • Was bedeutet es, das eigene Vaterland zu lieben, ohne dabei in Nationalismus abzugleiten?

Eine mögliche Interpretation wäre, dass die Predigt eine bewusste, aber indirekte Antwort auf die politischen Sorgen des Mannes war. Vielleicht sollte sie einen Kontrapunkt setzen: Liebe als Gegenmittel gegen Angst, Hass und politische Spaltung.

Andererseits könnte es auch sein, dass die Predigt vollkommen losgelöst vom Wahlergebnis war – eine Art Insel der Unberührtheit inmitten gesellschaftlicher Unruhe. Das würde dann den Eindruck verstärken, dass Kirche und politische Realität oft aneinander vorbeireden.

Doch vielleicht muss ich heute gar nicht alle Zusammenhänge verstehen. Vielleicht genügt es, die Möglichkeiten darzulegen – und jede*r zieht daraus die eigenen Schlüsse.


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2 Comments

  1. Charles Charles

    Mir hat es sehr gefallen, dass statt sofort Antworten auf die politische Lage anzubieten eine Introspektion durchgeführt wird. Wir haben ja nicht alle Antworten sofort parat. Die intellektuelle Demut ist auch eine Tugend, die uns bei der Suche nach Antworten weiterhelfen kann.

    • RvL RvL

      Danke, Charles, für den Kommentar. Aber wie heißt es so schön?

      „Man lernt nie aus!“

      Lernen bedeutet doch letzten Endes, nach Antworten zu suchen – oder? Können wir wirklich immer nur Fragen stellen und sie dann unbeantwortet stehenlassen? Oder liegt die Antwort vielleicht schon in der Frage selbst?

      Vielleicht geht es gar nicht darum, jede Frage sofort aufzulösen, sondern im offenen Dialog – mit sich selbst und mit anderen – den Weg zu persönlichem Wachstum zu finden. Vielleicht führt gerade das Fragen und der Austausch zu einem tieferen Verständnis. Vielleicht wächst daraus sogar der Mut zur Veränderung.

      Das ist es, was uns im Leben wirklich weiterbringt!

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